“Von mir aus sollen die ruhig verrecken.”
“Keinen Cent von meinen Steuergeldern.” Wörtliche Aussagen eines schnieken Bengels zum Thema soziale & ärztliche Betreuung von Prostituierten und Drogenkonsumenten. Auch Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte Markus Schreiber will den Straßenstrich aus dem Bahnhofsviertel Hamburg St. Georg heraus deportieren. Seine Forderung, die Prostituierten vom sozialen Umfeld St. Georg in das menschenleere Gewerbegebiet von Rothenburgsort zu verlagern, ist Menschen verachtend.

“Niemand zwingt sie dort anschaffen zu gehen” ist das zynische Argument der Wahl von Unterstützern dieser Deportation.
Die Forderung nach einem per Staatsmacht zu säubernden St. Georg fällt seit einiger Zeit wieder auf fruchtbaren Boden. In diese Richtung gehende Forderungen stellt die Hansaplatz Initiative in den Raum. Diese Ende 2010 gegründete Interessenvertretung (s.a. Treffen der Hansaplatz Initiative…) von einigen Anwohnern rund um den Hansaplatz argumentiert konfrontativ:
(…) Die Sperrgebietsverordnung ist für die Polizei ein notwendiges Instrument, um auf die Aktivitäten des Rotlichtmilieus einwirken und innerhalb eines Wohngebietes kontrollieren zu können. Die Forderung ragazza e.V. nach Aufhebung der Sperrgebietsverordnung in St. Georg darf deshalb gleichgesetzt werden mit der Forderung nach Einführung eines Sperrgebietes für Wohnen insbesondere von Familien und das trotz der vielfach beklagten Wohnknappheit in einem zentrumsnahen Viertel. (…) Dass die Menschen, die im Quartier wohnen und arbeiten, Familien gründen und ihre Kinder groß ziehen, wiederum von der hiesigen Szene schikaniert und belästigt werden, und Freier selbst vor dem Anmachen der hier lebenden Kinder nicht zurückschrecken, ist offensichtlich von zweitrangiger Bedeutung. (…)
Quelle: Derzeitige Startseite von initiative-hansaplatz.de. Hervorhebung von mir.

Da sind sie wieder, die Angst geweiteten Augen ganzer Familien, die Forderung nach dem Eingreifen der Polizei und das Totschlagargument der Kinderbelästung. Perfide wird der über lange Jahre praktizierte Konsens über ein Miteinander gleich gesetzt mit einem Wohnverbot für Familien.
Ebendort findet sich auch der zweite Allgemeinplatz, der jede Form von legaler Sexarbeit vom Tisch wischt:
Prostitution in Verbindung mit Menschenhandel ist jedoch eine Tatsache und umfasst die planmäßige Ausbeutung von Menschen, meist sexueller Art, aber auch von Arbeitskraft und Ausnutzung von Zwangslagen, die immer mit dem Einsatz von Gewalt und Drohungen einhergeht.
Langsam und in ganz kurzen Sätzen: Prostitution ist Sexarbeit. Sexarbeit ist eine Dienstleistung. Menschenhandel ist ein Verbrechen.

Sehr lesenswert (und Anlass für diesen Artikel) ist die Analyse / der Artikel Biopolitischer Rassismus der bürgerlichen Mitte im Hamburger Stadtteil St. Georg von Kathrin Schrader vom 26. April 2011. Den Artikel gibt es auch als PDF (besser druckbar).
Unter dem Deckmantel der bunten Vielfalt kommt hier (bei der Hansaplatz Initiative) ein biopolitischer Rassismus der bürgerlichen Mitte zum Tragen, wie er aus vielen europäischen Großstädten und ihrer Gentrifizierungslogik bekannt ist. Zur Durchsetzung ihrer individuellen Ziele ist der (Hansaplatz) Initiative offensichtlich jede Argumentation – und sei sie noch so haltlos – recht.
Bitte nicht von dem leicht verkopften Stil des Artikels abhalten lassen. Kathrin Schrader dröselt fein ziseliert die einzelnen Nichtargumente der Hansaplatz Initiative auf. Einer der Unterpunkte sind die vehementen Angriffe auf die Hamburg weit hoch geachteten sozialen Einrichtungen in St. Georg:
Um ihr Ziel durchzusetzen, greift die Hansaplatz Initiative die sozialen Einrichtungen an, die erst dafür gesorgt haben, dass St. Georg ein so lebenswerter Stadtteil geworden ist, dass sich selbst die Mitglieder dieser Initiative vorstellen konnten hier zu wohnen.
Etwas knapper & pragmatischer schrieb auch schon der Einwohnerverein St. Georg gegen die Verdammnis der Prostituierten, Drogensüchtigen und Alkoholiker auf dem Hansaplatz an: Wann wird der Hansaplatz endlich fertig? (30.11.2010).
Die verschärfte polizeiliche Verfolgung sämtlicher Prostituierter einzuklagen, die Alkis zu verdrängen bzw. den Alkoholverkauf einzuschränken, ‘zweifelhaftes’ Gewerbe und Stundenhotels auszugrenzen usw. ignoriert nicht nur den Umstand, dass wir alle im Hauptbahnhofviertel leben (und in ein solches ja auch vor kürzerem oder längerem mehr oder weniger bewusst gezogen sind), ein solches Herangehen hebelt auch den in den neunziger Jahren mühsam ausgehandelten und seitdem beachteten Konsens aus, nicht der Verdrängung das Wort zu reden, sondern für ein friedliches und vernünftiges Neben- und Miteinander Sorge zu tragen.
Nachtrag 5.5.2011: Meinungen des Bürgervereins zum Thema
Berechtigt ist die Beschwerde des Bürgerveins von St. Georg (bei mir per Mail), dass natürlich auch die Artikel & Stellungnahmen aus den ‘Blättern aus St. Georg’ zitiert oder zumindest erwähnt werden sollten.
- Allgemein: Oben rechts in der Suche Hansaplatz Prostitution (Kurzlink) eingeben und dann die Ergebnisse per Klick auf ‘Bürgerverein’ verfeinern/filtern.
- Artikel: Christoph Korndörfer (SPD, Vorstand Bürgerverein) schrieb am 4.4.2011 den Beitrag Wohnqualität contra Toleranz???, der die Positionierung des Bürgervereins im beschriebenen Konflikt widergibt.
- In den ‘Blättern aus St. Georg’ Ausgabe 04-11 (PDF) finden sich mehrere Seiten zum Thema und auch auf Seite 8 eine Stellungnahme des ersten Vorsitzenden Helmut Voigtland. Er spricht sich ebenfalls sehr deutlich für die Deportation der ‘Szene’ in die Großmannstraße nach Rothenburgsort aus. Nachtrag 13.5.2011: Meine Kommentare zu dieser Stellungnahme in einem extra Artikel Prostitution in St. Georg: Widersprüche, Konfrontation & Deportation.

Ich wiederhole die Kernaussage meines Kommentars aus dem Artikel Treffen der Hansaplatz Initiative…):
Der polarisierende Ton und die krawallige Konfrontationshaltung, wie sie bei der Hansaplatz Initiative heraus zu hören sind, müssen verschwinden.
Auch die vermeintliche Allzweckwaffe Polizei kann nicht über Gebühr strapaziert werden.
Am Hansaplatz gefragt sind ein langer Atem und der Wille zur Kooperation, wenn man den Platz zum gemeinsamen Wohnzimmer St. Georgs machen möchte.
Nachtrag 5.5.2011: Situation am Hansaplatz
Ich bin die letzten Tage zu allen möglichen Uhrzeiten am Hansaplatz gewesen. Der Platz ist ruhig, die Kneipen leer, die Mädels fast nicht sichtbar und die ‘Menschenmassen’, mit oder ohne Bier in der Hand, sind mehr als übersichtlich. Jeder, der hier merkwürdige Deportationsgelüste hat, möge sich doch bitte z.B. im neuen Café Curious nieder lassen und die Szenerie studieren. Die Mutigen, nur über 18, dürfen auch gerne in die ach so bösen Raucherkaschemmen herein gucken. Wer sich an die lustigen Szenen in den 80ern des letzten Jahrtausends erinnert, der/die wird erstaunt sein ob der herrschenden Flaute.